Artensterben und Klimawandel – die Zwillingskrise
Karl-von-Frisch-Vortrag von Prof. Tielbörger am 21.11.2022
Katja Tielbörger, Professorin für Vegetationsökologie an der Universität Tübingen, war am 21.11.2022 am Karl-von-Frisch-Gymnasium zu Gast und referierte über das Thema „Artensterben und Klimawandel – die Zwillingskrise“.
Den Begriff „Artensterben“ könne man zu einer „Biodiversitätskrise“ ausweiten, begann Prof. Tielbörger ihren Vortrag. Man könne wie im Vortragstitel von einer „Zwillingskrise“ sprechen, da beide Phänomene (Artensterben und Klimawandel) die gleichen Ursachen aufwiesen. Einerseits könne man das an der wachsenden Weltbevölkerung festmachen: Mehr Menschen brauchen mehr Ressourcen, was zu einer Konkurrenz um Raum und Ressourcen führt. Andererseits könne man feststellen, dass der Erdüberlastungstag (mit Ausnahme des Corona-Jahrs 2020) jedes Jahr weiter nach vorne rückt. 2022 war bereits am 28. Juli das Maß der Regenerationsfähigkeit der Erde überschritten, was sich auch in einem deutlich zu hohen ökologischen Fußabdruck von im globalen Durchschnitt 1,75 benötigten Erden ausmacht. Fernerhin zeigt das Modell der planetaren Grenzen (ROCKSTRÖM 2011), dass das Artensterben das größte Problem darstellt. Ausgestorbene Arten seien verloren, beim Klimawandel bestehe immerhin noch die Chance der Rückholbarkeit. Die Artenkrise hat die Dimension erreicht, dass 25 % aller bekannten Arten weltweit (ca. 1 Mio. Arten) vom Aussterben bedroht sind, während sich 10- bis 100-mal größere Aussterberaten als in den letzten 10 Mio. Jahren zeigen.
Ein weiteres Merkmal der Zwillingskrise offenbart sich dadurch, dass die Biodiversität das Klima beeinflusst. Bei der Umwandlung von Flächen mit hoch diversen Arten (tropischer Regenwald, Blumenwiesen, europäischer Wald) in „Agrarwüsten“ (Monokulturen) oder versiegelte Bereiche (Städte) entstehen dort hohe Emissionen, die es unter vorigen Nutzungen nicht gab. Hinzu kommt, dass der Klimawandel Lebewesen beeinflusst. Als Haupttreiber des Artensterbens wird der Landnutzungswandel beschrieben, während der Klimawandel stark aufhole.
Frau Prof. Tielbörger zeigte vier Möglichkeiten auf, wie Arten auf den Klimawandel reagieren können:
- Flucht in präferierte Klimate (Migration)
- flexible individuelle Antwort (Plastizität)
- Evolvieren für eine hohe genetische Vielfalt (Anpassung)
- nichts tun (Extinktion)
Die Migration macht sich fest an einer Flucht im Raum in Richtung der Pole (6,1 km pro Dekade in Richtung höherer Breiten) und in den Bergen aufwärts (6,1 m pro Dekade aufwärts). Es gibt aber auch eine Flucht in der Zeit, denn in der Phänologie wird die Ankunft von Zugvögeln, der Blühzeitpunkt von Pflanzen oder der Brutzeitpunkt von Vögeln beschleunigt (ca. 2,3 Tage pro Dekade früher). Die Haselblüte erfolgt in Baden-Württemberg inzwischen sogar 20 Tage früher als noch im Jahr 1950. Schnelle Anpassungen von Arten an externe Einflüsse werden hingegen selten beobachtet. Positive Beispiele hierfür wären der Birkenspanner, der auf Umwelteinflüsse reagiert hat, indem er seine Farbe, die ihn auf Birkenstämmen tarnt, angepasst hat, oder wilder Raps, der nach sieben Dürrejahren eine frühere Blüte zeitigt. Negative Beispiele wären hingegen die Inzucht durch Selektion, weil die Fitness leidet oder dass selbst variabelste Populationen nicht mit dem Klimawandel Schritt halten können.
Eine hohe Gefährdung in Bezug auf Extinktion wird für Arten mit einer geringen Ausbreitungsfähigkeit sowie mit einer geringen Anpassungsfähigkeit erkannt. Szenarien basierend auf beobachteten lokalen Aussterbeereignissen lassen für die tropischen Klimate die höchsten Aussterbeereignisse erwarten, wobei Tiere ein größeres Problem als Pflanzen haben. Ein beschleunigtes Aussterberisiko tritt allerdings mit jedem Grad Temperaturzunahme ein.
Ob ein Überleben unter den Bedingungen des Klimawandels möglich ist, zeigen bioklimatische Modelle. Dabei sei die Annahme falsch, dass die Artverbreitung nur von klimatischen Aspekten abhänge. Außerdem wanderten Populationen nicht gleich. Zudem sei die Verdrängung einheimischer Arten im eingewanderten Gebiet eher unrealistisch.
Als Hauptaussterbeursache werden folglich veränderte Interaktionsprozesse erkannt, wie z.B. die klimatisch induzierte Entkopplung von Nahrungsketten (Bsp.: Frostspanner / Kohlmeise).
Feldexperimente zu Dürre und Niederschlagsgradienten (Manipulation des Niederschlags zwischen +30 % und -30 %) in verschiedenen Klimazonen zeigen zwar eine schnellere Evolution unter Dürre (Investition in Samen), während aber sieben weitere Eigenschaften nicht evolviert wurden. Als Ergebnis der Forschung kann festgehalten werden, dass in puncto Klimawandel graduelle Änderungen der Mittelwerte nicht das Hauptproblem sind, sondern die Extreme.
Beobachtet wurde, dass (semi-)natürliche Ökosysteme oft eine hohe Resistenz und / oder Resilienz zeigen. Gründe hierfür können die Habitatvielfalt sein (viele verschiedene Genotypen bedeutet hohe Anpassungsfähigkeit) oder aber die Artenvielfalt (= Versicherung vor Extremen), da Biodiversität Stabilität verursacht. So kann eine hohe Biodiversität wichtige, teils klimarelevante Ökosystemleistungen erhöhen, wie z.B. Produktivität, Stoffflüsse, Dürreresistenz, Ertragsstabilität, Schädlingsresistenz.
Förderlich für die Zukunft der Landwirtschaft wäre eine Mischnutzung von Ackerflächen durch Rotationsanbau. Dies funktioniert im Übrigen auch bei verschiedenen genetischen Arten einer Anbaufrucht. Dadurch konnte z.B. beim Reisanbau eine Verringerung der Anfälligkeit für Pilzbefall festgestellt werden. Im Ergebnis wird somit klar: Genetische Vielfalt schafft Ertragssicherheit. Biodiversität rechnet sich also letztendlich!